Während Brandenburgs Establishment bereits dazu übergegangen ist, sich für den Übergang von den bisherigen Regelungen zum Bürgergeld auf die Schulter zu klopfen [1], zeichnen Betroffene ein ganz anderes Bild. Im Interview mit der Brandenburger Freiheit schildert Frau L. (vollständiger Name ist der Redaktion bekannt) ihren Leidensweg durch die Antragstellung und erklärt, warum sie letztlich entnervt aufgab und sich dabei gedemütigt, erniedrigt und tyrannisiert fühlt.
BF: Sehr geehrte Frau L., Sie haben die Redaktion der BF angeschrieben und uns Ihren
persönlichen Fall in Bezug auf die Beantragung von Bürgergeld geschildert. Wie sind Sie auf die BF aufmerksam geworden ? Können Sie uns sagen, wie es dazu kam, dass Sie Bürgergeld beantragt haben?
Frau L.: Ich war auf mehreren Demonstrationen von „Oberhavel steht auf“ und bin über einen dortigen Kontakt auf die BF aufmerksam gemacht worden. Mir wurde zum 31.12.2022 von dem Arbeitgeber meiner Arbeitsstelle, welche ich im Oktober 2022 angetreten hatte, gekündigt. Diese Stelle hatte ich durch Eigeninitiative gefunden während ich mich aufgrund einer psychosomatischen Erkrankung im Krankengeldbezug befand. Die Krankenkasse hat in dieser Zeit ziemlichen Druck ausgeübt. Obwohl ich noch nicht in der Verfassung war, wieder eine neue Arbeit anzutreten, bin ich diesen Schritt gegangen. Die Bedingungen bei dem neuen Arbeitergeber hörten sich erst einmal gut an. Ich wurde für den Kundenservice im Rahmen eines 35 Stundenvertrages pro Woche in meinem Wohnort eingestellt. Die Einarbeitung erfolgte eine Woche und danach wurde von mir erwartet, die Tätigkeit in vollem Umfang auszuüben. Das war aufgrund der kurzen Einarbeitungszeit nicht möglich und leider gab es keine Unterstützung meiner Kollegen. Durch diese Belastung ging es mir gesundheitlich wieder schlechter und ich wurde wieder krank. Da ich mich noch in der Probezeit befand, erhielt ich die Kündigung im Monat Dezember zum 31.12.2022. Daraufhin meldete ich mich sofort beim Arbeitsamt in Oranienburg und erhielt einen Termin zu einem kurzen Gespräch. Dort traf ich auf eine sehr freundliche und verständnisvolle Mitarbeiterin.
Den Antrag für das ALG I stellte ich dann online. Es wurden hierfür die Arbeitsbescheinigungen der letzten fünf Jahre benötigt. Mein letzter Arbeitgeber ließ sich dafür sehr viel Zeit. Es fehlten dann auf der letzten Gehaltsabrechnung die mir zustehenden 300 Euro Urlaubsgeld. Am 28.Januar 2023 erhielt ich den Bescheid über das mir zustehende ALG I. Es sind 800 Euro. Von dieser Summe kann ich meinen Lebensunterhalt nicht bestreiten. Ich informierte mich über die Seite der Arbeitsagentur und erfuhr, dass ich Bürgergeld beantragen kann. Ergänzend möchte ich noch sagen, dass mein letzter Arbeitergeber mir die fehlenden 300 Euro im Januar ausgezahlt hat. Diese wurden mir dann von meinem ersten Arbeitslosengeld direkt abgezogen und ich bekam lediglich 500 Euro ausbezahlt.
BF: Wann und wo haben Sie das Bürgergeld beantragt ? Wie kann ich mir die Beantragung vorstellen? Geschieht dies persönlich im Gespräch oder erfolgt die Antragstellung online?
Frau L.: Da ich bereits beim Arbeitsamt online registriert bin, gibt es die Option auch online Bürgergeld zu beantragen. Leider funktionierte diese aber nicht, da separate Zugangsdaten benötigt werden. Einen Ansprechpartner zur Unterstützung gab es leider auch nicht. Ich habe mir das Antragsformular dann ausgedruckt, per Hand ausgefüllt und mit insgesamt 58 Kopien im Jobcenter Oranienburg persönlich abgegeben. Folgende Unterlagen mussten mit eingereicht werden: Mietvertrag, die letzte Betriebskostenabrechnung, letzte Steuererklärung, Kontoauszüge vom Bank- und Paypalkonto lückenlos von Oktober 2022- bis Januar 2023, alle Versicherungen, die
Zulassung und der KfZ-Brief meines kaputten Autos, die Krankengeldbescheinigungen von Januar bis August 2022.
BF: Was passierte nach der Antragstellung und wie lange dauerte es bis zur ersten Kontaktaufnahme?
Frau L.: Ein paar Tage später erhielt ich ein Schreiben, in welchem aufgelistet war, welche Unterlagen noch fehlten. Ich hatte das Deckblatt meines Mietvertrages nebst leerer Rückseite nicht mit eingereicht. Es wurde angefordert, dieses nachzureichen. Ebenso mein Scheidungsurteil von 2007 sowie ein fehlender Kontoauszug. Diesen hatte ich seinerzeit vernichtet, da dort ausschließlich ein Informationstext aufgeführt war. Ich musste diesen Auszug nachträglich bei meiner Bank erstellen lassen und dafür 15 Euro Gebühr bezahlen. Nachdem ich diese Unterlagen wieder persönlich im Eingangsbereich abgegeben hatte, kam das nächste Schreiben.
BF: Wie ging es dann weiter?
Frau L.: Ich habe online über die Kontaktfunktion versucht, einen Termin für ein Beratungsgespräch zu erhalten. Mir wurde schriftlich mitgeteilt, dass dieses nicht möglich sei. Diesmal ging es um mehrere Einzahlungen auf meinem Konto. Ich hatte mir von einem Freund Geld geliehen für ein neues Auto und es auf mein Konto eingezahlt. Für diese Einzahlungen mussten schriftliche Erklärungen abgegeben werden. Außerdem sollte ich noch das Schreiben über den Vermieterwechsel nebst Mieterhöhung einreichen. Es wurde dann allerdings aus unerfindlichen Gründen nicht anerkannt.
BF: Hier ist ein Zitat von der Internetseite der SPD zum Thema Bürgergeld „Die SPD schiebt gerade die größte Sozialstaatsreform seit 20 Jahren an und läutet einen entscheidenden Perspektivwechsel ein. Wir schaffen einen Sozialstaat, der Menschen nicht verängstigt, sondern ihnen als Partner zur Seite steht. Auf Augenhöhe und mit einem positiven Menschenbild. Damit sorgen wir – gerade jetzt in Krisenzeiten – für mehr Sicherheit und Respekt vor der Lebensleistung derer, die in Arbeitslosigkeit geraten. Mit höheren Regelsätzen, mehr Respekt und passgenauen Hilfen.“ [2]. Wie ist es Ihnen bezüglich des Slogans ergangen ? An welcher Stelle fühlten Sie sich wertschätzend und respektvoll behandelt?
Frau L.: Ich fühlte mich zu keiner Zeit wertschätzend und respektvoll behandelt. Im Internet machte ich mich auf die Suche nach Foren, um an Ratschläge und Tipps zu kommen. Im Hartz IV Forum meldete ich mich dann an und schilderte meine Erfahrungen. Daraufhin erhielt ich eine Nachricht, dass man mich gelöscht hat, da ich systemkritisch sei.
BF: Haben Sie zwischenzeitlich versucht, mit der/dem Vorgesetzten oder Amtsleiter Kontakt aufzunehmen, um die Angelegenheit zu schildern und ggfs. von dort Unterstützung zu bekommen?
Frau L.: Nein, ich wollte das mit der Sachbearbeiterin besprechen und zu dieser Zeit ging es mir schon sehr schlecht. Ich war mit der ganzen Situation überfordert.
BF: Die SPD wirbt auf ihrer Internetseite auch mit der unbürokratischen Antragstellung des
Bürgergeldes [2]. Haben Sie eventuell versucht von dort Unterstützung zu bekommen und wenn ja, wie hat die unbürokratische Unterstützung ausgesehen?
Frau L.: Es gibt keine unbürokratische Antragstellung. Es ist der psychische Wahnsinn.
BF: Was hat schlussendlich dazu geführt, den Antrag auf Bürgergeld zurückzuziehen?
Frau L.: Da ich immer weiter kleckerweise Post vom Jobcenter bekam, weil irgendetwas fehlte, konnte ich nicht mehr. Ich habe mich noch nie so gedemütigt, erniedrigt und tyrannisiert gefühlt. Die Sachbearbeiterin verlangte sogar die Einreichung meiner letzten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Das habe ich aus Datenschutzgründen abgelehnt. Ich hatte keine Kraft mehr und habe dann der Sachbearbeiterin am 15.2.2023 schriftlich mitgeteilt, dass ich den Antrag zurückziehe. Die Gründe habe ich alle aufgeführt und auch wie ich mich behandelt fühlte. Sechs Tage später erhielt ich die Mitteilung, dass aufgrund meiner Erklärung das Antragsverfahren beendet sei. Kein Wort der Entschuldigung oder des Bedauerns kam darin vor.
BF: Wie ging es dann weiter? Wie ist es Ihnen möglich, Ihre finanzielle Situation zu entspannen? Welche Schritte konnten Sie dafür einleiten ? Und woher bekamen Sie von Amtswegen dafür Unterstützung?
Frau L.: Ich habe meine Steuererklärung für das letzte Jahr gemacht. Jedoch dauert es mehrere Wochen, bis dieser bearbeitet ist und das Geld ausgezahlt wird. Außerdem habe ich bei der Stadtverwaltung einen Antrag auf Wohngeld gestellt. Bis heute am 17.März 2023 wurde mein Antrag noch nicht erfasst. Ich habe mit der zuständigen Sachbearbeiterin telefoniert, welche sehr freundlich war. Sie teilte mir mit, dass der Antrag sich in einem meterhohen Stapel befindet und die Bearbeitungszeit ungefähr 12 Wochen dauert.
BF: Welche Chancen haben Sie wieder einen Arbeitsplatz in Ihrem erlernten Beruf bzw. in dem Tätigkeitsbereich zu finden, in dem Sie zuletzt tätig waren?
Frau L.: Ich habe mehrere Bewerbungen für eine Tätigkeit im Büro geschrieben und auch positive Rückmeldungen erhalten. Leider habe ich zwischenzeitlich durch eine Untersuchung erfahren, dass ich an grünem Star leide und dadurch keine Bildschirmtätigkeit mehr ausüben darf. Glücklicherweise ergab sich durch eine Bewerbung das Angebot für einen anderen Arbeitsbereich ohne Bildschirmarbeit, wo dringend jemand gesucht wird. Bei der Vorstellung wurde ich sehr nett und freundlich behandelt. Dort werde ich im April anfangen.
BF: Haben Sie Hoffnung, dass Sie mit der Veröffentlichung Ihrer ganz persönlichen Erfahrung bezüglich der Beantragung des Bürgergeldes Menschen darüber aufklären können, dass der Slogan der SPD unglaubwürdig ist ?
Frau L.: Ja, das hoffe ich. Das Schönreden der Politik muss aufgezeigt werden. Die Ungerechtigkeit ist sehr groß und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.
BF: Liebe Frau L. , wir danken Ihnen für das freundliche und offene Gespräch und wünschen Ihnen alles Gute.
Das Gespräch führten Gabriele Schade und Michaela Klaukien für die Brandenburger Freiheit.
[1] https://www.oberhavel.de/Politik-und-Verwaltung/Kreistag/Livestream/ , ab ca. 08:30
[2] https://www.spd.de/buergergeld/