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Zu dumm, zu faul oder doch systematisch ausgegrenzt?

Fast 33 Jahre nach der Wiedervereinigung sind Ostdeutsche in gesellschaftlichen Führungspositionen noch immer unterrepräsentiert. Das Phänomen ist seit langem bekannt. Aktuelle Zahlen der Brandenburger Landesregierung zeigen, dass sich das Problem nicht einfach „auswächst“, wie viele Experten erwarteten. Denn selbst in den Spitzen der Brandenburger Ministerien sind „Ossis“ nicht adäquat zum Bevölkerungsanteil vertreten.

„Unterrepräsentanz führt auf Dauer zu Unzufriedenheit aufgrund von Unzugehörigkeit … Fehlende Repräsentanz führt dazu, dass Menschen sich nicht mit »dem System« identifizieren.“,

findet Elske Hildebrandt, Mitglied der SPD-Fraktion im Brandenburger Landtag [1].

Ostdeutsche sind in gesellschaftlichen Führungspositionen unterrepräsentiert. Das ist lange bekannt. Hildebrandt scheut sich nicht, die von ihr unterstützte Landesregierung an das eigene Vorhaben zu erinnern, diesen Zustand zu ändern.

Wir werden mit gutem Beispiel vorangehen und uns dafür einsetzen, dass die Repräsentationslücke im Landesdienst geschlossen wird.“,

heißt es im Koalitionsvertrag von SPD, CDU und Grünen [1], [2]. Per Kleiner Anfrage forderte Hildebrandt die Landesregierung auf, Zahlen vorzulegen [1].

Den Angaben der Landesregierung zufolge beträgt der Anteil Ostdeutscher unter Staatssekretären, Abteilungs- und Referatsleitern in den meisten Brandenburger Ministerien weniger als 50%. Dabei ist noch nicht einmal klar, ob davon alle wirklich ostdeutsch sozialisiert sind. Die Zahlen enthalten auch Personen mit dem Geburtsort Berlin, wobei nicht weiter zwischen dem Ostteil und dem Westteil der Stadt unterschieden wird, Tabelle 1 [1].

MinisteriumInsges.davon Ostdeutsche
(inkl. Berlin)
in %
Ostdeutsche
(ohne Berlin)
in %
Bildung, Jugend, Sport (MBJS)3158,154,8
Finanzen, Europa (MdFE)3842,131,6
Justiz (MdJ)2231,827,3
Inneres, Kommunales (MIK)4548,933,3
Infrastruktur, Landesplanung (MIL)3342,430,3
Landwirtschaft, Umwelt, Klima (MLUK)3641,733,3
Soziales, Gesundheit, Integration, Verbraucherschutz (MSGIV)395935,9
Wirtschaft, Arbeit, Engergie (MWAE)3336,427,3
Wissenschaft, Forschung, Kultur (MWFK)2646,238,5
Staatskanzlei (Stk)285039,3
alle33146,235,3
Tabelle 1: Staatssekretäre, Abteilungsleiter, Referatsleiter der Brandenburger Landesregierung [1]


Noch schlechter fällt die Bilanz unter den Präsidenten und Direktoren an Brandenburger Gerichten aus, Tabelle 2 [1].

Insgesamtdavon Ostdeutsche (inkl. Berlin)
in %
Ostdeutsche (ohne Berlin) in %
404027,5
Tabelle 2: Präsidenten und Direktoren an Brandenburger Gerichten [1]

Und auch die Vertretung Ostdeutscher in den Spitzenpositionen Brandenburger Universitäten fügt sich in das Gesamtbild, Tabelle 3 [1]. Wobei hier der Ort des Schulbesuchs maßgebliches Kriterium für die Unterscheidung nach Ost oder West war.
Und auch die Vertretung Ostdeutscher in den Spitzenpositionen Brandenburger Universitäten fügt sich in das Gesamtbild, Tabelle 3 [1]. Wobei hier der Ort des Schulbesuchs maßgebliches Kriterium für die Unterscheidung nach Ost oder West war.

FunktionInsgesamtdavon Ostdeutsche
in %
davon Westdeutsche in %
Präsident81387
Vizepräsident203565
Kanzler86338
Dekan313565
Tabelle 3: Spitzenpositionen an Brandenburger Hochschulen und außeruniversitären Einrichtungen [1]


Die Landesregierung misst dem Problem durch aus eine hohe Relevanz bei. In Ihrer Stellungnahme stellt sie klar,

…, dass eine zu niedrige Repräsentanz Ostdeutscher in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen demokratiepolitisch nicht nur höchst fragwürdig, sondern für das Vertrauen in politische Institutionen und Verfahrensweisen geradezu schädlich ist.“ [1]

Allerdings sind ihre Handlungsspielräume nach eigener Darstellung begrenzt. Öffentliche Ämter müssen nach den Kriterien Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vergeben und besetzt werden. Dieses Leistungsprinzip (Bestenauslese) gilt mit Verfassungsrang (Art. 33 Abs. 2 Grundgesetz) in der gesamten Bundesrepublik Deutschland.

So beschränkt sich die Landesregierung darauf, Bewusstsein für die Repräsentationslücke zu schaffen und das Thema immer wieder in die öffentliche Diskussion zu rücken. Wodurch das geschieht, geht aus der Stellungnahme nicht hervor. Die Ernennung von Ines Härtel zur Richterin am Bundesverfassungsgericht verbucht die Landesregierung jedenfalls Erfolg für ihre Lobbyarbeit [1].

Die Frankfurterin Härtel war lange als Jura-Professorin an der Viadrina tätig. Geboren 1972 in Staßfurt (Sachsen-Anhalt) kann sie eine lupenreine Ost-Biographie vorweisen. Im Juli 2020 (!) wurde sie die erste Ostdeutsche am Bundesverfassungsgericht [3] und gehört dort dem ersten Senat unter dem Präsidenten Stephan Harbarth an [4]. Härtel war dort u.a. auch an der Zurückweisung von Verfassungsbeschwerden gegen die Schulschließungen im Rahmen der Corona-Politik beteiligt [5] – Maßnahmen, deren Verhältnismäßigkeit vom Sachverständigenausschuss des Gesundheitsministeriums nur ein halbes Jahr später in Zweifel gezogen wurden [6].

Die Landesregierung nimmt für sich in Anspruch, die Anzahl von Ostdeutschen in den eigenen Reihen gesteigert zu haben und verweist dazu auf Angaben von 2019 [7]. Ob sich mit der absoluten Anzahl auch der Anteil Ostdeutscher erhöht hat, lässt sich anhand dieser Daten jedoch nicht nachvollziehen. Wie dem auch sei. Fakt bleibt, dass Ostdeutsche selbst in den Spitzenjobs der Brandenburger Landesregierung unterrepräsentiert sind.

Wie oben bereits erwähnt ist das Phänomen der bundesweiten Repräsentationslücke nicht neu. Es beschäftigt Gesellschaftswissenschaftler seit der Wiedervereinigung. Lange hatte man darauf gesetzt, dass sich das Problem mit der Zeit „auswachsen“ würde. Doch diese These lässt sich nicht mehr halten. So verwundert es nicht, dass Wissenschaftler und Politiker längst nach anderen Erklärungsansätzen suchen.

Iris Gleicke, die frühere Ost-Beauftragte der Bundesregierung, fasste ihre Überlegungen hierzu in einer Frage zusammen:

Haben wir es mit einem geschlossenen Netzwerk westdeutscher Eliten zu tun, zu dem Ostdeutsche keinen oder nur einen sehr schweren Zugang haben? [8]


[1] https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w7/drs/ab_7800/7865.pdf
[2] https://www.brandenburg.de/media/bb1.a.3833.de/Koalitionsvertrag_Endfassung.pdf
[3] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/politik/2020/07/bundesverfassungsgericht-ines-haertel-ernennung-steinmeier-viadr.html
[4] https://www.bundesverfassungsgericht.de/DE/Richter/Erster-Senat/erster-senat_node.html;jsessionid=3095EE1BB7DA5DD2A1ADC9016DBB9F0C.internet982
[5] https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2021/11/rs20211119_1bvr097121.html
[6] https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/S/Sachverstaendigenausschuss/BER_lfSG-BMG.pdf
[7] https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w6/drs/ab_11100/11177.pdf
[8] https://www.deutsche-gesellschaft-ev.de/images/veranstaltungen/konferenzen-tagungen/2017-pb-ostdeutsche-eliten/Deutsche_Gesellschaft_eV_Broschuere_Ostdeutsche_Eliten.pdf