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Zur Sache Herr Ministerpräsident

Anfang 2022: Im Rahmen eines Polizeieinsatzes gegen eine Corona-Demonstration stirbt ein Mensch in Wandlitz. In Bernau gerät die Auflösung einer unangemeldeten Versammlung zu einer Treibjagd. Jüterbog gleicht bei einer ähnlichen Situation einem Bürgerkriegsgebiet. Und das alles, um Maßnahmen durchzusetzen, die heute als „Schwachsinn“ gelten. Im Mai 2023 zeigt sich der Brandenburger Ministerpräsident bei einem Bürgerdialog unwissend zu diesen Vorgängen. Sein Innenminister sitzt daneben und schweigt. Ein offener Brief an Dietmar Woidke.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident,

beim Bürgerdialog „Zur Sache Brandenburg“ am 16.05.23 in Falkensee haben Sie die von mir gestellte Frage leider nicht beantwortet. Ich bedaure das. Stattdessen forderten Sie von mir „Belege“ für Verweise, die ich einleitend meiner Frage voranstellte.

Es ging um unverhältnismäßig harte Einsätze der Polizei bei Demonstrationen gegen die Corona-Politik des Landes. Im Einzelnen benannte ich einen Polizeieinsatz in Wandlitz in dessen Rahmen ein Mensch ums Leben kam, ich verwies auf die Auflösung einer Demonstration in Bernau, die für Betroffene zu einer Treibjagd geriet, wie mir Augenzeugen berichteten. Außerdem sprach ich von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“ in Jüterbog, als die Polizei gegen friedliche Demonstranten mit Einsatzhundertschaften, Hundestaffel und Pferdestaffel vorging.

Offen gesagt hat mich Ihre vorgebliche Unkenntnis über die Fälle überrascht. Dennoch komme ich an dieser Stelle Ihrer Aufforderung nach, Belege zu liefern. Der Fall Wandlitz ist in zahlreichen Quellen beschrieben, siehe [1] – [4]. Auch für das Vorgehen gegen Demonstranten in Bernau gibt es mehrere Quellen. Exemplarisch führe ich hier Quelle [5] an. Die Fälle in Wandlitz und Bernau waren auch Gegenstand der Beratungen im Innenausschuss am 09.02.2022. Innenminister Stübgen nahm dazu ausführlich Stellung. Sein Schweigen am Dienstagabend in Falkensee hat mich deshalb sehr verwundert.

Verwunderung löste bei mir auch Ihre Unkenntnis über den Fall in Jüterbog aus. Auch hierüber hatte die Presse berichtet [6]. Hinzu kommt aber, dass Sie von 10 Jüterboger Stadtverordneten diesbezüglich angeschrieben wurden. Bitte prüfen Sie doch noch einmal Ihren Posteingang. Das Schreiben sieht so aus. →

Auch Jüterbog war Gegenstand der Beratungen im Innenausschuss [7]. Um ein Haar wäre hier fast noch ein Mensch im Rahmen des Polizeieinsatzes ums Leben gekommen als ein Polizeipferd seiner Natur folgend gegen eine Frau ausschlug, die zu Boden gestoßen wurde. In den sozialen Netzwerken kursierten hierzu diese Videos, siehe unten. Ich bin mir sicher, dass der Polizei noch mehr Material vorliegt. Bitte wenden Sie sich bei Bedarf an den Innenminister.

Die genannten Fälle sind auch nur die mir bekannten traurigen Tiefpunkte. Es gab weitere Vorkommnisse u.a. in Cottbus, Brandenburg an der Havel, Hennigsdorf. Und wozu das alles? Um herauszufinden, wer für den Verstoß gegen das Versammlungsrecht als Haupttäter identifiziert werden kann? Nein. Im Kern ging es darum, Masken- und Abstandsgebote durchzusetzen – Maßnahmen, die heute als „Schwachsinn“ eingestuft werden.

Die Verwendung des Begriffes „Schwachsinn“ betrachte ich keineswegs als verbale Entgleisung. Kein geringerer als Bundesgesundheitsminister Lauterbach machte diesen Begriff salonfähig, als er die Maßnahmen im Außenbereich mit diesem Prädikat versah [8], [9]. Schwachsinn! Karl Lauterbach schloss sich mit dieser Bewertung der Auffassung eben jener Demonstranten an, gegen die besagte Polizeimaßnahmen gerichtet waren und entzog dem polizeilichen Vorgehen im Nachhinein die fachliche Grundlage. Gleichzeitig schiebt Hr. Lauterbach den Ländern die Verantwortung zu. (Ich verkneife mir hierzu einen Kommentar.) Fakt ist, der Ball liegt nun in Ihrem Feld.

Wie wollen Sie mit Lauterbachs Bewertung umgehen? Wollen Sie ihm widersprechen? Nein? Dann wäre es jetzt an der Zeit, zu erklären, wie Sie sich eine Aufarbeitung der Corona-Politik vorstellen. Das war meine eigentliche Frage. Unter „Aufarbeitung“ verstehe ich eine ehrliche Analyse, die gemachte Fehler als solche identifiziert und wirksame Maßnahmen ergreift, damit sie sich nicht wiederholen.

Bitte unterstellen Sie mir auch künftig nicht mehr, ich würde die Polizei an den Pranger stellen. Ich habe am Dienstagabend die aus meiner Sicht auf Landesebene Verantwortlichen klar benannt. Dazu gehört natürlich der für die Einsätze verantwortliche Innenminister. Dazu gehört ebenso Gesundheitsministerin Nonnemacher, die mit den Verordnungen überhaupt die Rechtsgrundlage für das polizeiliche Vorgehen schuf. Dazu gehören natürlich auch Sie selbst, denn den Verordnungen gingen i.d.R. entsprechende Zusagen bei der Ministerpräsidentenkonferenz voraus.

Mir ist darüber hinaus auch sehr wichtig auf die Verantwortung der Parlamentsmehrheit hinzuweisen. Denn über das Infektionsschutzbeteiligungsgesetz (IfSBG) hätte sie den „Schwachsinn“ verhindern können. Sie können die Liste der Verantwortungsträger auf Landesebene gerne noch fortsetzen, falls ich hier etwas übersehen habe.

Aktuell kann ich nur wenige Bemühungen erkennen, eine ehrliche Aufarbeitung im oben beschriebenen Sinne zu betreiben. Üblicherweise folgt an dieser Stelle der Verweis auf die Corona-Untersuchungsausschüsse des Landtages. Allerdings ist Ihnen genauso wie mir klar, dass eben jene Parlamentsmehrheit, die selbst in der Verantwortung steht, auch die Mehrheit der Ausschussmitglieder stellt.

Brandenburg steht vor dem Superwahljahr 2024 und angesichts wahltaktischer Überlegungen stellt sich die Frage, wie groß die Neigung der Verantwortlichen ist, Aufarbeitung zu betreiben und wie sie dabei mit ihrer eigenen Befangenheit umgehen. Das war der zweite Teil meiner Frage. Auch dieser Teil blieb am Dienstag unbeantwortet.

Bitte beachten Sie, dass ein kleiner Teil der Bevölkerung nicht bereit ist, zur Tagesordnung überzugehen und Antworten auf die sich stellenden Fragen einfordert, damit „Schwachsinn“ in diesem Land nie wieder verordnet wird und damit „Schwachsinn“ nie wieder mit polizeilicher Härte durchgesetzt wird.

Mit freundlichen Grüßen
Jan Müggenburg

[1] https://www.rbb24.de/studiofrankfurt/panorama/2022/01/brandenburg-wandlitz-corona-demo-tod-obduktion-in-extremo-pfeiffer.html
[2] https://www.t-online.de/unterhaltung/stars/id_91546874/corona-demo-in-wandlitz-in-extremo-bandmitglied-boris-pfeiffer-wohl-toter.html
[3] https://diebasis-partei.de/2022/01/nachruf-boris-pfeiffer/
[4] https://polizei.brandenburg.de/pressemeldung/versammlungslagen-am-24-01-2021-/3017500
[5] https://bernau-live.de/kundgebung/grosseinsatz-in-bernau-polizei-loest-corona-spaziergang-auf
[6] https://www.maz-online.de/lokales/teltow-flaeming/jueterbog/nach-grosseinsatz-in-jueterbog-stadtverordnete-fordern-antworten-von-politik-und-polizei-PV4NFRZ7S2W637MQXWXF7364LM.html
[7] https://www.parlamentsdokumentation.brandenburg.de/starweb/LBB/ELVIS/parladoku/w7/apr/AIK/35.pdf
[8] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/140941/Lauterbach-Manche-Coronamassnahmen-waren-Schwachsinn
[9] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lanz-lauterbach-prantl-corona-massnahmen-100.html

Revisionsvermerk: In der für knapp 2 Stunden online gewesenen Erstversion des Beitrages war von „Mittwochabend“ bzw. „Mittwoch“ die Rede. Der 16.05.2023 war natürlich ein Dienstag. Außerdem fehlten die angegebenen Quellen. Ich bitte darum, diese Fehler zu entschuldigen. Jan Müggenburg