You are currently viewing Interview mit einer Gegendemonstrantin

Interview mit einer Gegendemonstrantin

Im Winter 2021/22 wurden die Montagsdemonstrationen der Bürgerinitiative Oberhavel-Steht-Auf in Oranienburg von einer kleinen Gruppe von Gegendemonstranten begleitet. Die Beharrlichkeit der Aktivisten rang selbst dem Orga-Team der Bürgerinitiative Respekt ab. Nach einigen misslungenen Anläufen kamen dann im Oktober ’22 erste Gespräche zustande. Man respektiert sich und redet miteinander.

BF: Grundrechte, Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung sind die Kernforderungen der Montagsdemonstranten vom Schloßplatz in Oranienburg. Welche Gründe haben Dich und Deine Mitstreiter veranlasst, dagegen zu demonstrieren?

Lena: Unsere Demo war kein Protest gegen diese Werte, sondern gegen einzelne Teilnehmer, z.B. die NPD-Jugend oder den Dritten Weg. Die Montagsdemo bot solchen Organisationen nicht nur eine Plattform, sich zu zeigen, sondern auch die Möglichkeit, neue Anhänger zu rekrutieren. Die Erklärungen der Versammlungsleiter zum Extremismusausschluss haben wir zur Kenntnis genommen. Wir haben jedoch erwartet, dass man konsequenter gegen Rechtsextremisten vorgeht.

BF: Das heißt, grundsätzlich teilt Ihr die Werte Grundrechte, Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung?

Lena: Grundsätzlich ja. Wir fanden den Umgang des Orga-Teams mit diesen Werten aber nicht konsequent genug und sehr selektiv. Dazu gehört auch der Umgang mit unserer eigenen Demo. Wir wurden von einigen Teilnehmern gefilmt, beschimpft und es gab sogar eine Halsabschneider-Geste als Morddrohung. Außerdem hat ein Teilnehmer versucht, uns wegen eines Schildes mit der Aufschrift „Querdenken marschiert mit Nazis“ anzuzeigen. Dies blieb aber für uns zum Glück ohne juristische Folgen.

BF: Später im Frühjahr ’22 war dann plötzlich Schluss? Woran lag’s?

Lena: Nun, wir konnten zunächst feststellen, dass es bei Euren Demos keine rechtsextreme Gruppierungen mehr gab, zumindest nicht offen mit Merch und Banner, keine Thor-Steinar-Jacken, keine NPD-Jugend, keine Materialien vom 3. Weg. Ein Genozid-verharmlosendes Plakat und ein Apartheid-Plakat tauchten auch nicht mehr auf. Die Polizei hatte uns auch zugesichert, auf verfassungsmäßige Inhalte von Plakaten zu achten. Hilfreich war sicher auch, dass das Orga-Team Verständnis für unser Anliegen zeigte.Natürlich haben auch wir ein Privatleben und können unsere Zeit mit anderen Dingen sinnvoll gestalten. Trotzdem werden wir das Geschehen bei Oberhavel-Steht-Auf weiter im Auge behalten: die Chats, die Demos, die Plakate.

BF: Zuvor gab es noch ein Ereignis, als Ihr von einer älteren Teilnehmerin an den Montagsdemos überredet wurdet, Euch das Geschehen auf dem Schloßplatz einmal näher anzusehen. Nachdem einige Teilnehmer auf dem Schoßplatz auf Euch zugegangen sind, habt Ihr Eure Schloßplatz-Runde unter polizeilicher Begleitung fortgesetzt. Welche Eindrücke hattest Du von der Begegnung mitgenommen? Hattest Du Angst?

Lena: Viele denken, dass wir alle Teilnehmer der Montagsdemos für Nazis halten. Das ist aber nicht so. Die ältere Dame wollte uns vom friedlichen Charakter der Demo und ihrer Teilnehmerschaft überzeugen. Also willigten wir letztlich ein und gingen mit ihr auf den Schloßplatz. Drüben angekommen, wurden wir natürlich sofort erkannt und von einer großen Zahl von Montagsdemonstranten umringt, die wie Geier auf uns zu sind. Also ja, ich bekam es mit der Angst zu tun, hatte aber damit gerechnet. Die ältere Dame fand das, glaube ich, viel schlimmer und wollte dann ganz schnell weg.

BF: Du bezeichnest Dich selbst als (politisch) links. Was genau bedeutet das, (politisch) links zu sein? Wofür stehen Linke?

Lena: Dazu muss man wissen, dass es „die Linke“ als klar umrissene Bewegung nicht gibt. Der Begriff (politisch) „links“ erfasst ein sehr weites Spektrum, das von der SPD bis zu Stalinisten reicht. Gemein ist allen Linken eine antikapitalistische und antifaschistische Grundhaltung. Wir lehnen Hierarchien ab und denken, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Auf welche Hierarchien man sich dabei besonders konzentriert, ist echt verschieden, je nach Strömung sind einige eher fokussiert auf Feminismus, queere Befreiung oder Klassenkampf.
Rechte hingegen stehen für mehr Hierarchie. Sie behandeln Menschen ungleich und messen ihnen sogar einen unterschiedlichen Wert bei, zum Beispiel wird der Wert einer Familie daran gemessen, ob die Eltern Mann und Frau sind, oder ob jemand nach Deutschland einreisen darf, soll von Religion und Hautfarbe abhängen. Das lehnen Linke wiederum ab.

BF: Wie stehen Linke zum Verhältnis von Individuum und Kollektiv? Muss sich das Individuum dem Kollektiv unterordnen?

Lena: Auch in dieser Frage sind „die Linken“ nicht einheitlich positioniert. Ich denke, dass ein Kollektiv idealer Weise von freien Individuen gebildet wird. Unabhängig davon sollten sich die Individuen gegenüber dem Kollektiv solidarisch verhalten und sich z.B. Impfen lassen und Masken tragen, wenn dies notwendig ist. Die Stellung der individuellen Freiheit gegenüber dem Kollektiv muss also im Einzelfall beurteilt werden, das ist halt eine Abwägungsfrage.

BF: Wie sieht es mit Deinem Verhältnis zu Staat und Großkonzernen aus? Vertraust Du ihnen noch?

Lena: Nein. Das ist mit meiner antikapitalistischen Grundhaltung nicht vereinbar.

BF: Warum vertraust Du dann der Regierung bei den Corona-Maßnahmen und der Pharmaindustrie bei der Impfung?

Lena: Das tue ich nicht. Meine Haltung in dieser Frage ist nicht Ausdruck für ein tiefes Vertrauen in Staat, Medien und Biontech. Ich vertraue meinem Hausarzt, lese Studien und sehe einen wissenschaftlichen Konsens bei diesem Thema.

BF: Mit dem Kurswechsel in der Corona-Politik verschiebt sich auch der Inhalt der Proteste bei den Montagsdemos. Welche Themen rücken bei Dir und Deinen Mitstreitern in den Vordergrund?

Lena: Unsere Themen sind vor allem der Klimawandel, der Krieg, Polizeigewalt und Transphobie. Dazu kommen noch Armut und Inflation sowie die soziale Ungerechtigkeit. Sorgen bereitet uns auch das wachsende Gewicht der AfD, die unseres Erachtens für mehr Neoliberalisierung und weniger progressive Werte steht.

BF: Lena, vielen Dank für das Gespräch.

Anmerkung: Aus Transparenzgründen sei darauf hingewiesen, dass BF-Redakteur Jan Müggenburg den Kontakt zur Gegendemonstrantin Lena (Name geändert) als Teil des Orga-Teams der Montagsdemos in Oranienburg gewann.

  • Beitrags-Autor:
  • Beitrags-Kategorie:Politik