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Die Kulturrevolutionäre

Die Tragweite der Absage des Auftritts von Stefan Krähe im Oranienburger Hotel an der Havel wurde von der Öffentlichkeit noch gar nicht vollständig erfasst – auch nicht von der Brandenburger Demokratiebewegung. Der Begriff „Cancel Culture“ verharmlost das Treiben selbsternannter Sittenwächter und moderner Kulturrevolutionäre. Denn faktisch handelt es sich um einen Verfassungsbruch. Ein Kommentar von Jan Müggenburg.

Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts blickte Mao Zedong auf den wirtschaftlichen Scherbenhaufen, den seine Strategie des „Großen Sprungs“ (1958 bis 1961) hinterlassen hatte. Die Kampagne sollte aus dem bäuerlich geprägten China ein modernes Industrieland machen, endete jedoch in einer Versorgungskatastrophe mit Millionen von Hungertoten. Die Lage war so prekär, dass sich die kommunistische Führung gezwungen sah, zumindest zeitweilig marktwirtschaftliche Prinzipien wieder einzuführen. [1]

In dieser Situation sah Mao nicht nur seine eigene Stellung innerhalb der KPCh sondern auch das Erbe der chinesischen Revolution insgesamt in Gefahr. Eine neue Kampagne musste her. Dieses Mal sollten Schüler und Studenten gegen „reaktionäre akademische Autoritäten“ mobilisiert werden. In Zeitungsartikeln ließ er zur Kritik an altem Denken, alten Sitten und Gebräuchen und alter Kultur aufrufen. Opfer der nun folgenden Attacken wurden nicht nur missliebige Parteifunktionäre sondern vor allem Intellektuelle, Professoren und Lehrer, die nach Auffassung der aufgestachelten Rotgardisten in besonderer Weise die „vier Relikte“ verkörperten. [1], [2]

Die heutige Situation in Deutschland ist nicht mit jener des Chinas in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts vergleichbar. Dennoch zeigen sich Parallelen, die jeden Zeitgenossen alarmieren sollten, für den Pluralismus und Toleranz mehr sind als das Bekenntnis zur gendergerechten Sprache unter der Regenbogenfahne. Absagen an Künstler wie Uli Masuth [3] oder die Künstlergruppe um Jill Sandjaja [4] sind an der Tagesordnung. Selbst die Psychologin und Fachbuchautorin Esther Bockwyt berichtet von Problemen mit Verlagen, wenn der Gegenstand ihrer Publikation zu unbequem wird [5]. Man gewöhnt sich an diese Dinge und nimmt sie hin. Das ist ein Fehler!

In Brandenburg hat es inzwischen mehrfach den Deutschrocker Stefan Krähe erwischt. Krähes Musik ist von eingängigen Melodien gekennzeichnet. Seine Refrains haben oft Hymnencharakter, die Texte sind alles andere als belanglos. Inhaltlich verarbeitet Krähe seine Lebenserfahrungen. Gelegentlich kommt seine „links-liberale“ Grundeinstellung zum Vorschein wie in dem Song „Kein Bock“. Dennoch suchen seine Songs nicht grundsätzlich den Konflikt mit gängigen Narrativen und dem herrschenden Establishment.

Was macht Krähe also zum Aussätzigen, dem reihenweise Engagements und Veranstaltungsräume gekündigt werden? So ganz genau wissen das wohl selbst die Meinungsmacher in den regierungsnahen Medien nicht. Für sie ist Krähe der „umstrittene“ Künstler, der deshalb „umstritten“ ist, weil er mit Leuten in Verbindung gebracht wird, die – Sie ahnen es – „umstritten“ sind.

Immer wieder wird Krähe ein Auftritt auf einer Demo zur Last gelegt, die von Ralph T. Niemeyer organisiert wurde. Aus Niemeyers Auffassung, dass Deutschland nicht souverän sei, dichtet man Krähe eine Nähe zu Reichsbürgern an – ein wirklich gewagtes Konstrukt. Dabei hatte Krähe bereits mehrfach öffentlich erklärt, kein Reichsbürger zu sein. Im Interview mit der BF wurde der Künstler sogar noch klarer und bekannte, die auf dem Grundgesetz basierende Rechtsordnung anzuerkennen. Doch das genügt, den neuen Kulturrevolutionären nicht.

Neben seiner impfkritischen Haltung eckt Krähe mit seiner Antwort auf die Frage an, wie viele Geschlechter es gibt: 2 Geschlechter, Punkt! Für Krähe ist ein Vater ein Vater und eine Mutter eine Mutter, keine „Gebährende“. Auf der Bühne zeigt er sich gern durchtrainiert im Muskelshirt, betont maskulin. Damit trifft er bei den Anhängern der Idee einer geschlechtlichen Entpolarisierung einen empfindlichen Nerv. Für sie ist Krähe ein Vertreter alten Denkens, alter Sitten und alter Kultur kurz: ein Relikt.

Ganz im Stile der chinesischen Rotgardisten versuchen sie sich in puncto Linientreue gegenseitig zu überbieten. Die Erklärungen der Dissidenten spielen dabei keine Rolle. Denn wer wie gut den eigenen, woken Idealen entspricht, möchten die selbsternannten Sittenwächter natürlich gern allein entscheiden.

Noch zielen die Angriffe in subtiler Form auf die wirtschaftliche Existenz der Künstler ab. Da werden Mitarbeiter von Spielstätten attackiert (Neuruppin) oder der Betreiber gleich direkt unter Druck gesetzt (Oranienburg), um Auftritte zu verhindern. Bislang agieren die Protagonisten verdeckt und ohne zu offener Gewalt zu greifen. Bislang!

Das subtile und bis hierhin gewaltfreie Vorgehen darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die modernen Kulturrevolutionäre weit im Bereich der Illegalität bewegen. Der Begriff der „Cancel Culture“ wird dem Treiben in vielen Fällen nicht gerecht. Treffender wäre es vielmehr hier von einem klaren Verfassungsbruch zu sprechen!

Die Kunst ist frei (Art. 5 Abs. (3) GG)
„Die Freiheit der Kunst“ was bedeutet das eigentlich? Die Uni Potsdam vertritt zum Einen die Auffassung, dass damit die Rechte der Künstler geschützt werden, ihre Kunst auch auszuüben.

Der Schutzbereich der Kunstfreiheit umfasst vom Umfang her zweierlei: Erstens ist die Herstellung des Kunstwerks selbst, also die eigentliche schöpferische Tätigkeit, geschützt. Man bezeichnet diesen Bereich als Werkbereich. [6]

Das leuchtet auch dem juristischen Laien ein und entspricht wohl dem Rechtsempfinden der meisten Bürger. Zum Anderen sehen die Potsdamer Juristen aber auch den Schutz von Veranstaltern durch das Grundgesetz gewährleistet:

Zweitens werden die Darbietung und Verbreitung der Kunst geschützt, also z.B. das Aufführen eines Theaterstücks auf einer Bühne. Dieser Teil der Kunstfreiheit ist der sog. Wirkbereich. Daraus folgt, dass in Bezug auf den persönlichen Schutzbereich der Künstler/ die Künstlerin selbst geschützt ist. Es ist jedoch nicht erforderlich, dass jemand als Künstler anerkannt ist oder Kunst als Beruf ausübt. Daneben werden auch Personen geschützt, die Kunstwerke ausstellen, vorführen usw. (z.B. Gallerist, Theaterintendant, Verleger). [6]

Um Missverständnissen von vornherein entgegenzutreten: Selbstverständlich haben Veranstalter die Freiheit, darüber zu entscheiden, welcher Art von Kunst und welchem Künstler
sie entsprechenden Raum geben. Aber Veranstalter, deren Mitarbeiter attackiert werden oder die gar selbst unter Druck gesetzt werden, entscheiden eben nicht mehr frei.

Was kann die Brandenburger Demokratiebewegung in dieser Situation tun? Die Aktiven können selbst zu Veranstaltern werden und eben jenen kritischen Künstlern den Raum geben, den sie für die Ausübung ihrer Kunst benötigen und sei es eben nur ein Auftritt auf den eigenen Demos. Doch auch die Anmietung von Räumen, um solche Veranstaltungen selbst auszurichten oder die nachhaltige Unterstützung von Veranstaltern, die sich solche Auftritte noch zutrauen kommen infrage.

Abschließend sei der Hoffnung Ausdruck verliehen, dass sich unter den neuen Kulturrevolutionären doch noch die Vernunft durchsetzt. Es sei daran erinnert, wie die Kulturrevolution in China endete. In ihrem Überbietungseifer bildeten sich nämlich unterschiedliche Fraktionen unter den Rotgardisten heraus. Im Streit um die richtige Auslegung von Mao’s Vorgaben und den richtigen Weg zu deren Umsetzung gingen sie bald aufeinander los. Die Auseinandersetzungen wurden teilweise sogar bewaffnet geführt und das Land geriet an den Rand eines Bürgerkriegs. Die Armee musste eingreifen. Am Ende ging aus dem neuerlichen Chaos nur einer gestärkt hervor: Mao Zedong

[1] https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/228467/kulturrevolution-in-china/
[2] https://www.deutschlandfunk.de/vor-50-jahren-in-china-die-grosse-proletarische-100.html
[3] https://bnn.de/karlsruhe/ettlingen/in-der-querdenkerszene-aktiv-stadt-sagt-auftritt-von-kabarettist-uli-masuth-ab-corona
[4] https://www.youtube.com/watch?v=bYISsKUBk50
[5] https://www.youtube.com/watch?v=fsc1jYAJJhg&t=2446s
[6] https://www.uni-potsdam.de/de/rechtskunde-online/rechtsgebiete/oeffentliches-recht/grundrechte/kunst-und-wissenschaftsfreiheit-art-5-abs-3-gg