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In dubio pro reo – Im Zweifel für den Angeklagten

Die Aufarbeitung der Corona-Krise und des verordneten „Schwachsinns“ kommt nur schleppend voran. Trotz eines Freispruchs zeigt der Fall von Ralf Lorenz wie schwer sich gerade die Brandenburger Justiz damit tut. Von der Verhandlung berichtet Gabriele Schade.

23.Dezember 2020
Es ist der erste Corona-Winter. Die Bundesländer, so auch das Land Brandenburg haben Verordnungen [1] erlassen, die die Bevölkerung in hohem Maße einschränken und in Teilen gegen das Grundgesetz verstoßen. In manchen Städten und Gemeinden regt sich Widerstand gegen diese Maßnahmen und Menschen treffen sich in der dunklen Jahreszeit mit Lichtern und gehen gemeinsam spazieren.

Der Marktplatz in Strausberg/Märkisch-Oderland mit dem beleuchteten Weihnachtsbaum ist fast menschenleer. Trotz des ungemütlichen Wetters ist Ralf Lorenz aus Petershagen dort mit einem befreundeten Ehepaar unterwegs. Es war für den Tag eine Versammlung angemeldet gewesen, welche allerdings zwei Tage zuvor bei der zuständigen Behörde wieder abgemeldet wurde.

Diese Versammlung mag der Grund dafür sein, dass ein unverhältnismäßig großes Polizeiaufgebot sich an dem Platz befand. Die Polizei fordert die dort anwesenden Menschen auf, den Platz zu verlassen. Ralf Lorenz und seine Begleiter befolgen diese Anweisung und setzen sich in Bewegung. Sie hören Stimmen die zum stehenbleiben auffordern. Aufgrund der vorherigen Durchsage fühlen sie sich nicht angesprochen und laufen weiter. Plötzlich kommen seitlich Polizisten im Laufschritt. Ralf Lorenz wird von hinten angegriffen und zu Boden gebracht. Dabei geht seine Brille zu Bruch.

Mehrere Polizisten versuchen ihn zu fixieren und seine Hände auf dem Rücken mit Kabelbindern zu fesseln. Er wird aufgefordert seinen Personalausweis zu zeigen, möchte aber aufgrund des Übergriffes zuerst den Dienstausweis von einem der Polizisten sehen. Es gibt einen Wortwechsel, die Polizisten zerren ihn an die Seite und bringen ihn in eine sitzende Position. Er ruft die ganze Zeit lautstark um Hilfe.

Ein Passant wird aufmerksam und kontaktiert den Polizeinotruf, da ihm die Szenerie sehr unwirklich erscheint. Gleichzeitig filmt er das Geschehen [2]. Nach einer kurzen Wartezeit meldet sich eine Stimme unter der Notrufnummer und es wird festgestellt, dass der Einsatz am Marktplatz korrekt ist. Zwischenzeitlich finden die Polizisten in der Kleidung von Ralf Lorenz einen Reisepass. Ihm wird daraufhin ein Dienstausweis gezeigt. Da er ohne Brille nicht lesen kann, werden die Daten laut vorgelesen und von dem filmenden Passanten notiert. Danach darf er den Platz verlassen.

Ralf Lorenz erstattete später gegen die Polizisten Strafanzeigen wegen der ihm zugefügten Verletzungen. Diese wurden vom zuständigen Staatsanwalt wegen „zu geringer Aussicht auf Verurteilung“ nicht an das Gericht weitergegeben, obwohl es Zeugenvernehmungen gab und auch das Video [2] als Beweis vorlag.

27.Juni 2023
Am Amtsgericht Strausberg ist zu 12.30 Uhr eine Verhandlung gegen Ralf Lorenz wegen „Widerstand gegen die Staatsgewalt“ angesetzt. Einer der Polizisten hatte sich bei der Festnahme von Ralf Lorenz eine Prellung am linken Knie zugezogen.

Zu 11.30 Uhr ist eine Protestversammlung vor dem Amtsgericht angemeldet. Der Passant, der seinerzeit die Situation am Marktplatz filmte, hat dazu aufgerufen. Die Straße, welche vor dem Gericht vorbeiführt, ist auf beiden Seiten gesperrt. Als die ersten Teilnehmer vor dem Gericht, teilweise mit Plakaten und Transparenten erscheinen, werden sie von den anwesenden Polizisten auf die gegenüberliegende Straßenseite verwiesen. Der Anmelder der Versammlung interveniert, da die Versammlung vor dem Gerichtsgebäude angemeldet ist. Leider ohne Erfolg. Nach und nach treffen mehr Unterstützer der Aktion ein. Es gibt mehrere Redebeiträge [3][4][5].

Kurz nach 12 Uhr begeben sich die ersten Teilnehmer in das Gerichtsgebäude, um der Verhandlung beizuwohnen. Eine Verfügung des vorsitzenden Richters erlaubt nur Personen den Zutritt, welche einen gültigen Bundespersonalausweis vorlegen können. Reisepässe auch mit Meldebescheinigung werden nicht akzeptiert. Mobiltelefone und auch Kugelschreiber müssen am Eingang hinterlegt werden. Dieses Prozedere sorgt dafür, dass zum Beginn der Verhandlung nicht alle 36 Zuschauerplätze besetzt werden können. Ein anwesender Gemeindevertreter unter den Zuschauern bittet den Richter darum, mit der Verhandlung später zu beginnen und noch weitere Zuschauer zuzulassen. Dieser lässt jedoch 12.35 Uhr die Saaltüren schließen und eröffnet die Verhandlung.

Ralf Lorenz verliest sein Gedächtnisprotokoll vom 23.12.2020 und zeigt mehrere Bilder der ihm damals zugefügten Verletzungen. Danach wird als erster Zeuge der Polizist mit der vermeintlichen Knieverletzung aufgerufen. Er erscheint in Uniform und Dienstwaffe und darf seine Zeugenaussage machen, obwohl das Tragen von Waffen explizit in der für die Verhandlung vorliegenden Verfügung untersagt ist. Der Richter wird aus dem Zuschauerraum darauf aufmerksam gemacht und untersagt dem Vortragenden weitere Wortmeldungen. Bei Nichteinhaltung droht er mit dem Saalverweis.

Der Polizist spricht von einer verbotenen Versammlung am 23.12.2020 und dass dort eine Gruppe aus drei Personen mit Lichterketten behangen am Platz waren. Es wurde ein Platzverweis ausgesprochen. Da sich die kleine Gruppe nach einigen Minuten dort noch immer befand, begaben sich mehrere Polizisten in deren Richtung. Inzwischen hatten sich die drei Personen in Gang gesetzt und man forderte sie zum Anhalten auf. Dem wurde nicht Folge geleistet und es kam zum Zugriff von Ralf Lorenz. Dieser wehrte sich und wurde dann durch Hilfe von Kollegen zu Boden gebracht und mit den Händen auf dem Rücken gefesselt. Durch die Gegenwehr hätte er sich eine Prellung am linken Knie sowie eine Rötung am rechten Knie zugezogen. In den darauffolgenden zwei Wochen konnte er deshalb nur im Innendienst arbeiten, war aber nicht dienstunfähig. Im späteren Verlauf der Verhandlung zeigt der Richter zwei Fotos von den Knieverletzungen. Der Zeuge spricht außerdem davon, dass Ralf Lorenz unterschiedliche Kraftausdrücke gegen die Polizisten vorbrachte und sich weigerte den Personalausweis vorzuzeigen. Der Anwalt von Ralf Lorenz befragt ihn hinsichtlich einiger Widersprüche zu dem seinerzeit verfassten Polizeiprotokoll.

Als nächster Zeuge erscheint der zweite Polizist (in Freizeitkleidung), der an der Festnahme beteiligt war. Er schildert eindrücklich die Festnahme mit Kontrollgriff durch seinen Kollegen und Sicherung der Körperhälften. Auch erklärt er auf Nachfrage, dass sein Kollege einen Mehrzweckstock eingesetzt hat. Ein Schlag auf den Rücken sei ein gängiges Mittel, um bei Personen, die sich bei einer Festnahme am Boden versteifen, die Erstarrung zu lösen. An Verletzungen bei Herrn Lorenz kann er sich nicht erinnern, wohl aber dass dessen Brille kaputt ging und dass er die Polizisten mit Ausdrücken beleidigte. An einer Stelle seiner Aussage sprach der sehr jung wirkende Polizist plötzlich von sich in der dritten Person.

Nachdem er aus dem Zeugenstand entlassen ist, wird eine Polizistin aufgerufen. Auch sie war an dem besagten Abend am Marktplatz. Ihre Aussagen sind sehr verhalten und unsicher. Sie unterbricht manchmal ihre Aussagen und hat Erinnerungslücken. Der Anwalt stellt die Frage, ob sie sich an den besagten Abend erinnern kann und erhält als Anwort ein klares„Ja“.

Der Passant, der seinerzeit die Videoaufnahmen [2] machte und die Polizei rief, wird als nächster Zeuge befragt. Er machte dort mit seiner Frau einen Weihnachtsspaziergang und wurde durch die Hilferufe aufmerksam. Leute trauten sich nicht aus ihren Geschäften und die Situation wirkte auf ihn bedrohlich. Die anwesende Polizei rief ihm zu, dass es nichts zu sehen gäbe. Daraufhin rief er den Notruf 110 an, schilderte die Situation und fragte, ob es einen Einsatz am Marktplatz in Strausberg gäbe. Dieses wurde bestätigt. Da er dort filmte, wurden seine Personalien aufgenommen.

Nun wird als nächster Zeuge der Anmelder der Versammlung aufgerufen. Er ist mit Ralf Lorenz befreundet. Zwei Tage zuvor, am 21. Dezember 2020 hatte er die Anmeldung für die Versammlung zurückgezogen. Er war trotzdem vor Ort, da er nicht wusste, ob die Absage bei allen angekommen war. Das Polizeiaufgebot hielt er für eine abgesagte Versammlung als unverhältnismäßig hoch. Als er den Platz verließ, wurde er von Polizisten verfolgt.

Der nächste Zeuge ist ein Mann, der an dem Abend vor Heiligabend ein wenig Trost und Ruhe an dem Weihnachtsbaum am Marktplatz suchte. Er kam gerade von seiner Frau, welche zu dem Zeitpunkt im Hospiz lag und war erschrocken über die Situation, die sich vor seinen Augen abspielte. Er sagte aus, dass Herr Lorenz und die Polizisten darüber stritten, wer zuerst seinen Ausweis vorzeigt. Dann sah er, dass Herr Lorenz über den Boden gezerrt und geschliffen wurde. Das so etwas hier möglich ist, war ihm bis dahin nicht klar. Ihn verfolgt heute noch sein schlechtes Gewissen, da er tatenlos zugesehen hatte.

Zwischenzeitlich scheint der Staatsanwalt etwas müde zu sein und schläft für einen Moment. Die Verhandlung läuft jetzt ungefähr seit zweieinhalb Stunden. Durch die große Fensterfront des Gerichtssaales kann man erkennen, dass ein Gewitter aufzieht.

Nun kommt als Zeugin die Dame zu Wort, die mit ihrem Mann und Ralf Lorenz zusammen am Strausberger Marktplatz war. Bemerkenswerterweise wurde ihr Mann nicht als Zeuge vorgeladen. Sie sagt aus, dass ihr Mann und sie von der Polizei aufgefordert wurden zurückzutreten und Ralf Lorenz von mehreren Polizisten von hinten angegriffen wurde. Er bekam einen Tritt in den Rücken und wurde zu Boden gebracht. Die Polizisten knieten auf seinem Rücken.

Danach wird das von dem Passanten aufgenommene Video [2] gezeigt. Die Szenerie wirkt sehr düster, denn es ist an dem 23.12.2020 gegen 18 Uhr bereits dunkel und regnet. Auf dem Marktplatz sieht man mehrere Mannschaftswagen der Polizei und Polizisten. Ansonsten ist es dort menschenleer. Im Hintergrund sind die Hilferufe von Ralf Lorenz zu hören.

Nun folgt noch die Verlesung der Zeugenaussage eines weiteren Polizisten. Er berichtet, dass der damalige vorgesetzte Dienstleiter eine verbotene Versammlung am 23.12.2020 ankündigte und er deshalb mit seinen Kollegen vor Ort war. Es sollte auf die Einhaltung gemäß der geltenden Corona-Schutzverordnung geachtet werden. Die Aussage des Polizisten war nicht für diese Verhandlung gemacht worden, sondern wurde aus dem Verfahren, in dem Ralf Lorenz die Polizisten anzeigte, übernommen. Dieses Verfahren war eingestellt worden (siehe oben).

In seinem Plädoyer spricht der Staatsanwalt davon, dass sich die Anklage für ihn bestätigt hat, da Ralf Lorenz gegen die Polizisten Widerstand geleistet und Beleidigungen ausgesprochen hat. Diese hätten völlig richtig gehandelt und die Aussagen seien durchaus plausibel. Polizisten dürfen Gewalt anwenden, wenn man sich ihnen widersetzt. Zwar dürfen sie nicht Personen von hinten überfallen, aber es könnte sein, dass in diesem Fall die anderen Zeugen die Situation nicht vollständig wahrgenommen haben. Er zweifle an der Glaubwürdigkeit der anderen Zeugen, aber man möge nicht davon ausgehen, dass er den Polizisten mehr Glauben schenke, weil sie Polizisten sind. Da der Angeklagte keinerlei Vorstrafen hat, sei es ausreichend eine Verwarnung auszusprechen und ihm die Zahlung von 30 Tagessätzen à 70 Euro aufzuerlegen.

Der Anwalt von Ralf Lorenz fordert einen Freispruch für seinen Mandanten und begründet dies damit, dass ein Widerstand nicht eindeutig festgestellt werden konnte. Sein Mandant hat sich an den Platzverweis gehalten und wurde im Gehen von hinten überfallen. Die Beleidigungen gegenüber den Polizisten sieht er über die Meinungsfreiheit gedeckt. Man dürfe nicht vergessen, dass sich sein Mandant in einer Ausnahmesituation befand.

Abschließend hat der Angeklagte das Wort. Er weist darauf hin, dass es sich nicht um eine verbotene Versammlung gehandelt hat, sondern dass diese zwei Tage vorher abgemeldet wurde. Auch wäre aufgrund der unterschiedlichen Aussagen während der Verhandlung und in dem damals verfassten Polizeiprotokoll der Polizisten nicht erkennbar, in welchem Aufgabenbereich die Maßnahme stattgefunden hat. War es die aktuelle Corona-Verordnung mit den Abstandsregeln und Zusammenkünften von mehreren Haushalten oder der Platzverweis wegen der vermeintlich verbotenen Versammlung? Dann verliest er ein inhaltlich umfangreiches Schriftstück eines ihm bekannten Polizeikommissars im Ruhestand. Dieser hat im Laufe seines Berufslebens viele Stationen durchlaufen und auch Polizisten ausgebildet. Eines seiner Resümees nach erfolgtem Aktenstudium lautet: Die Bewertung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ist zweifelhaft [6].

Der Richter ordnet eine Viertelstunde Pause vor der Urteilsverkündung an. Vor dem Gerichtsgebäude befinden sich noch immer Teilnehmer der Protestversammlung und das obwohl zwischenzeitlich ein starkes Gewitter stattgefunden hat. Es erfolgt ein FREISPRUCH für Ralf Lorenz. Es konnte nicht mit sicherer Überzeugungsbildung [7] bewiesen werden, dass ein Widerstand stattgefunden hat. Auch waren im Video keine Beleidigungen zu hören. Einen Bonus für Polizisten bei den Zeugenaussagen wollte der Richter im Gegensatz zu dem Staatsanwalt auch nicht einräumen. Ralf Lorenz ist sichtbar erfreut und erleichtert. Zweieinhalb Jahre nach diesem schrecklichen Erlebnis, und dem Versuch des Staatsanwaltes, ihn vom Opfer zum Täter zu machen, kann er nun zur Ruhe kommen.

Ralf Lorenz ist Mitglied des Rates für ethische Aufklärung (RfeA) [8] und stellte sich als parteiloser Kandidat für den Wahlkreis Märkisch-Oderland und Barnim II zur Bundestagswahl 2021 zur Verfügung [9].

[1] https://www.brandenburg.de/cms/detail.php/bb1.c.689730.de
[2] https://t.me/Gerichtstermine_info_news/92
[3] https://www.youtube.com/watch?v=UJeAUZbY4hI
[4] https://www.youtube.com/watch?v=l3UY63_OgeU
[5] https://www.youtube.com/watch?v=7cnW-gZN9hg
[6] https://www.juraforum.de/lexikon/verhaeltnismaessigkeit
[7] https://www.juraforum.de/lexikon/ueberzeugungsbildung-des-gerichts
[8] https://ethikrat-brandenburg.de/mitglieder-des-rates/
[9] https://ralflorenz-wk59.de/

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