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Brandenburger Landräte werden deutlicher

Steigende Zahl von Asylbewerbern und Kriegsflüchtlingen stellt Kommunen vor große Probleme. • Landrat in LOS spricht von der „Ruhe vor dem Sturm“. Landesregierung ohne Konzept. • Tönnies (OHV) sieht erhebliche Belastung für das Sozialsystem. Landkreis prüft weitere Standorte und bereitet Schulen und Sportvereine auf Nutzung von Sporthallen als Notunterkünfte vor. • Bürgerinitiative in Oberkrämer kündigt weitere Proteste an.

Die Bundesrepublik verzeichnet seit etwa dem 2. Halbjahr 2022 einen deutlichen Anstieg bei der Zahl der Anträge auf Asyl, Abb. 1 [1]. Den Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zufolge liegen die aktuellen Werte deutlich über dem Mittel der Jahre 2017 bis 2022. Allerdings wird das Niveau von 2016 noch nicht erreicht. Im 1. Quartal dieses Jahres kamen vor allem Menschen aus Syrien (23.127), Afghanistan (16.712) und der Türkei (10.587) [2]. Zusammen stellten sie 57% aller Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) [2].

Abb. 1: Asylanträge (Erst- und Folgeanträge) Bund, Quelle: [1]

Doch mit Blick auf die Nöte der Kommunen für Geflüchtete Wohnraum und Versorgung zu gewährleisten, erfasst diese Statistik noch nicht das ganze Problem. Ukrainer, Staatenlose und Staatsangehörige anderer Drittländer, die vor dem 24.02.22 in der Ukraine internationalen Schutz oder einen gleichwertigen nationalen Schutz genossen haben sowie deren Familienangehörige mit anderer Staatsangehörigkeit sind in der Asylstatistik gar nicht enthalten [3]. Ukrainer bekommen in der Regel eine Aufenthaltserlaubnis nach §24 Aufenthaltsgesetz. Das BAMF rät Ukrainern sogar davon ab, einen Asylantrag zu stellen [3]. Genau wie die Antragsteller auf Asyl benötigen sie in erster Linie Wohnraum und Versorgung mit den lebensnotwendigen Dingen.

Nach Angaben des Mediendienstes Integration! sind im Ausländerzentralregister (AZH) 1.062.239 Geflüchtete aus der Ukraine registriert, die zwischen Ende Februar 2022 und dem 24. April 2023 nach Deutschland kamen [4]. Wie viele von ihnen noch hier sind oder das Land bereits wieder verlassen haben, lässt sich nicht mit Sicherheit feststellen. Denn „ukrainische Staatsbürgerinnen können ohne Visum in die Europäische Union einreisen und sich in EU-Mitgliedstaaten des Schengen-Raums frei bewegen.“, teilte das BAMF dem Mediendienst mit [4].

Für Brandenburg gibt der Dienst an, dass hier 30514 Flüchtlinge aus der Ukraine leben (Stand: Feb. 2023) [4]. Doch der Krieg in der Ukraine, der sich längst zu einem Abnutzungskrieg gewandelt hat, dauert an und zwingt immer mehr Ukrainer, ihr Land zu verlassen. Ukrainische Kriegsflüchtlinge und Asylsuchende aus anderen Ländern stellen auch Brandenburger Kommunen vor immer größere Herausforderungen.

Zur Situation in Oder-Spree
Rolf Lindemann, scheidender Landrat im Kreis Oder-Spree, nimmt inzwischen kein Blatt mehr vor den Mund. Ungewöhnlich offen sprach Lindemann bereits in seinem Geschäftsbericht vom 01.03.2023 Mängel bei Unterbringung und Integration, fehlende Unterstützung durch Land und Bund sowie Begleitprobleme, wie die Fragen nach den Unterbringungsstandards und der sozialen Infrastruktur (Schule Kita, Hort, OPNV) an [5].

Unzivilisiertes Verhalten von Bewohnern der ZABH (Zentrale Ausländerbehörde des Landes Brandenburg) in Eisenhüttenstadt benannte er genauso wie die Beschimpfungen der zumeist weiblichen Sozialarbeiter mit sexistischem Inhalt, durch einzelne Bewohner in den Einrichtungen des Landkreises. Diese seien „hier an der Tagesordnung“, so Lindemann. [5]

Doch Lindemann legte nach. In seinem Geschäftsbericht vom 19.04.23 sprach Lindemann gar von einer weiteren Zuspitzung der Situation [6]. Abermals beklagte er, dass die „übergeordnete Ebene“ ohne Masterplan für Unterbringung und Integration agiert und meint damit offensichtlich die Brandenburger Landesregierung. Rechtliche Rahmenbedingungen und konkrete Handlungserfordernisse bleiben für Lindemann weitgehend im Unklaren und stellen somit ein enormes Planungsrisiko für die Landkreise dar. Vergaberechtliche Erleichterungen wie 2015 könnten seiner Ansicht nach den Kommunen mehr Flexibilität verschaffen.

Bislang gäbe es – so Lindemann in seinem Geschäftsbericht [6] – keine Konzeptansätze zur Nachführung der sozialen Infrastruktur: Schule, Kita, Gesundheitsversorgung. Seine Sorge: Integrationsaufgaben werden dem Landkreis durch die „Hintertür“ zugeschoben. Damit äußert Lindemann genau jene Kritik, die auch Selina Hübner von der Initiative Bürger für Oberkrämer im Gespräch mit der BF benannte (zum Interview mit Selina Hübner).

Zweifel äußerte Lindemann an der für LOS prognostizierten Aufnahmezahl von 1700 Geflüchteten. Er verwies darauf, dass der Landkreis bis Mitte April bereits ca. 50% der prognostizierten Zahl an Geflüchteten aufgenommen hatte. Eine aktualisierte Prognose erwartete Lindemann noch im April. Zusammenfassend beurteilt Lindemann die gegenwärtige Situation als „Ruhe vor dem Sturm“.

Oberhavel
In diesem Punkt stellt sich die Situation in Oberhavel anders dar. In einer Pressemitteilung vom 27.04.23 [7] teilte die Kreisverwaltung in Oberhavel mit, dass man per 25.04.23 erst 226 Geflüchtete aufgenommen habe. Gemäß dem vom Land vorgegebenen Aufnahmesoll hätten es 796 Menschen sein müssen. Ob diese erhebliche Differenz durch fehlende Aufnahmekapazitäten zustande kam oder schlicht dadurch, dass dem Landkreis weniger Geflüchtete zugewiesen wurden, geht aus der Pressemitteilung nicht hervor.

Die Prognose der Landesregierung sieht für den Landkreis in diesem Jahr ein Aufnahmesoll von 2.400 Geflüchteten vor. Damit ist klar, dass die aktuell 1800 Plätze, die dem Landkreis an 18 Standorten zur Verfügung stehen, nicht annähernd reichen werden. Sozialdezernent Kahl stellt hierzu fest: „Wollen wir das Aufnahmesoll 2023 erfüllen, müssten wir unsere jetzigen Kapazitäten mehr als verdoppeln.“ [7].

Das volle Ausmaß des Problems erschließt sich anhand des prognostizierten Aufnahmesolls noch nicht. Im vergangenen Jahr hatte Oberhavel 3.000 Geflüchtete aufgenommen, davon 2.580 Ukrainer. Doch viele von ihnen kamen im letzten Jahr in privaten Unterkünften unter und müssen oder wollen diese nun verlassen. Auch für diese Menschen müssen rasch neue Unterkünfte gefunden werden. Somit steht der Landkreis vor der Aufgabe, die Probleme vom letzten Jahr zumindest teilweise noch einmal lösen zu müssen.

Ungewöhnlich deutliche Worte findet Landrat Tönnies (SPD) zur aktuellen Situation: „Unser gesamtes Sozialsystem und unsere soziale Infrastruktur werden damit derzeit und absehbar erheblich belastet. Deshalb erfüllt mich die Situation mit großer Sorge. Denn provisorische Unterkünfte, die dann zu Langzeitlösungen werden, werden niemandem gerecht. Dass das keine Dauerlösung sein kann, habe ich gemeinsam mit meinen Amtskollegen auch auf der Landrätekonferenz am Mittwoch in Potsdam sehr deutlich gemacht!“ [8].

Neben den gerade fertiggestellten 200 Plätzen in Oranienburg und Wohnungen für 90 Geflüchtete in Marwitz untersucht der Landkreis weitere Optionen. Die Erweiterung der bestehenden Gemeinschaftsunterkunft in Lehnitz um etwa 200 Plätze kommt dabei ebenso in Frage wie die Einrichtung einer Gemeinschaftsunterkunft in Oranienburg-Eden in der Landwirtschaftsschule Luisenhof“ mit etwa 180 Plätzen. Außerdem könnte auch das Ferienobjekt des Landkreises in Neuglobsow als Notunterkunft genutzt werden aufgrund der baulichen Ausstattung allerdings nur im Sommer. Insgesamt stehen damit etwa 650 Plätze zur Verfügung. Zu wenig!

Ins Blickfeld der Kreisverwaltung rücken daher auch Standorte in Velten (Hohenschöpping), in Liebenwalde, Hohen Neuendorf, Hennigsdorf und Oranienburg [8]. Wo genau, das wollte die Kreisverwaltung in ihrer Pressemitteilung vom 31.03.23 zunächst nicht verraten. Sozialdezernent Kahl meinte hierzu: „Wir wollen niemanden verunsichern und wir wollen keine Gerüchte streuen.“ Der Landkreis verhängt damit faktisch eine Informationssperre und die Bürger werden wohl wie in Marwitz vor vollendete Tatsachen gestellt.

Auch dieser Punkt wurde von Selina Hübner in BF-Interview kritisiert. Unterdessen geht der Marwitzer Bürgerprotest weiter. Die Initiative Bürger für Oberkrämer hat hierzu eine Kundgebung am 22.05.2023 in Velten angekündigt. Los geht es um 19.00 Uhr auf dem Marktplatz.

In seiner Pressemitteilung vom 27.04.23 [7] zeigt sich die Verwaltung dann doch etwas bereitwilliger, Auskunft zu geben. Bei dem Objekt in Velten (Hohenschöpping) handelt es sich um das kreiseigene Gelände der ehemaligen Ingenieurschule. In Modulbauweise könnten auf dem Areal bis zu zehn Wohngebäude für maximal 470 Menschen errichtet werden. Entschieden ist hierzu aber noch nichts. Verschwunden sind aus der aktuelle Pressemitteilung plötzlich die Standorte Hohen Neuendorf und Hennigsdorf. Ob dies darauf zurückzuführen ist, dass die Standorte verworfen wurden oder dies schlicht das Resultat einer noch restriktiveren Informationspolitik ist, bleibt unklar.

In seiner Not zieht der Landkreis auch die Nutzung der Turnhallen von zwei kreiseigenen Schulen als Notunterkunft für Geflüchtete in Betracht. Das betrifft zum Einen die Sporthalle am Oberstufenzentrum in Zehdenick und zum Anderen die Sporthalle am Luise-Henriette-Gymnasium in Oranienburg [8]. Sozialdezernent Kahl erklärte hierzu, dass er bereits mit den Schulleitungen gesprochen und die hier trainierenden Sportvereine informiert hat [8]. Dessen ungeachtet verspricht Landrat Alexander Tönnies: „Sporthallen zu nutzen, bleibt für uns weiter die letzte Option. Wir beobachten deshalb die Flüchtlingszahlen genau, um auf alle Fälle gut vorbereitet zu sein.“

[1] https://www.bamf.de/DE/Themen/Statistik/Asylzahlen/AktuelleZahlen/aktuellezahlen-node.html
[2] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Statistik/AsylinZahlen/aktuelle-zahlen-maerz-2023.html
[3] https://www.bamf.de/DE/Themen/AsylFluechtlingsschutz/ResettlementRelocation/InformationenEinreiseUkraine/_documents/ukraine-faq-de.html
[4] https://mediendienst-integration.de/migration/flucht-asyl/ukrainische-fluechtlinge.html
[5] Geschäftsbericht des Landrats des Kreises Oder-Spree vom 01.03.23, abgerufen am 30.04.2023 über https://web.landkreis-oder-spree.de/somacos/sessionnet/bi/info.php
[6] Geschäftsbericht des Landrats des Kreises Oder-Spree vom 19.04.23, abgerufen am 30.04.2023 über https://web.landkreis-oder-spree.de/somacos/sessionnet/bi/info.php
[7] Pressemitteilung des Landkreises Oberhavel „Sichere Orte für geflüchtete Menschen“ vom 27.04.23, abgerufen am 30.04.2023 unter https://www.oberhavel.de/Politik-und-Verwaltung/Verwaltungsstruktur/B%C3%BCro-des-Landrates/Presse-und-%C3%96ffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/
[8] Pressemitteilung des Landkreises Oberhavel „Nach Flucht vor Krieg und Gewalt: Sicherer Platz für 200 Menschen“ vom 31.03.23, abgerufen am 30.04.2023 unter https://www.oberhavel.de/Politik-und-Verwaltung/Verwaltungsstruktur/B%C3%BCro-des-Landrates/Presse-und-%C3%96ffentlichkeitsarbeit/Pressemitteilungen/